Warum haben Kinder Angst vor Monstern, die in ihren Schränken und unter ihren Betten wohnen? Weil sie das Unbekannte symbolisieren? Ruth und Viktor fürchten sich nicht vor dem Unbekannten. Die Quelle ihrer Angst ist ihnen mehr als vertraut. Ruth fürchtet sich, wenn sie ihren Großvater besuchen muss und Viktor, wenn sein Schwager auf ihn aufpassen soll. Die beiden leben in der ostdeutschen Provinz, Ruth in einem Pfarrhaus mit streitenden Eltern und musikalischer Früherziehung, Viktor als Sohn einer ukrainischen Mutter und eines NVA-Unteroffiziers. Schnell werden sie beste Freunde, verlieren aber kein Wort über die Gewalterfahrung, die beide miteinander verbindet. Denn wenn man nicht davon erzählt, ist es nicht geschehen. Nach der Wende trennen sich die Wege der beiden: Viktor sucht Anerkennung bei den Neonazis und geht als Au-Pair nach Frankreich, derweil flüchtet sich Ruth in ihr Geigenspiel. Doch ihrer Vergangenheit entkommen sie nicht – zumindest nicht alleine.
Die Lyrikerin Ulrike Almut Sandig hat in ihrem ersten Roman mehreres zugleich geschaffen: einen Wende-Roman, eine Missbrauchsgeschichte, ein Kindheitspanorama, eine Coming-of-Age-Story. Einfühlsam und unnachgiebig zwingt ihre Erzählstimme, auch dort hinzuschauen, wo man eigentlich wegsehen will.
Moderation: Christian Dinger
Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2017 mit dem Literaturpreis Text & Sprache des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft ausgezeichnet, 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.