Anna Prizkau

»Frauen im Sanatorium«

19:30

»Pepik streckte seinen Hals, und ich erzählte ihm von meiner Mutter. Das machte ich jeden Tag. Seitdem ich die Tabletten nahm, die mir am Morgen, jeden Morgen, die magere und große Krankenschwester mit den korallenroten, runden Lippen brachte. Seit zwei Wochen. Seitdem war alles wie in Watte, und ich redete mit einem Vogel.«

 

Ein rotgraues Gebäude – rot von außen und grau von innen – ist das neue Zuhause von Anna. Seit »der Sache« lebt sie in diesem Sanatorium zusammen mit Elif, die ständig Geschichten erfindet, um nicht über ihren verschwundenen Verlobten sprechen zu müssen, mit der lauten Marija, die ununterbrochen über ihre heldenhafte Mutter monologisiert, und mit der Soldatin Katharina, die jeden Abend Rotwein mit Wodka trinkt. In dieser redseligen Gesellschaft ist Anna die einzige, die meist stumm bleibt – außer wenn sie im Kurpark dem Flamingo Pepik aus ihrem Leben erzählt: von ihrer Emigration, ihrer Sorge um die Mutter, ihrer Wut auf den Vater, vom Schmerz ihrer Kindheit und vor allem von der Liebe.

In Anna Prizkaus Frauen im Sanatorium begegnen wir einer Schicksalsgemeinschaft aus Verlorenen, die Halt vor allem im eigenen Erzählen finden – sei es als Mittel der Verdrängung oder der Selbstbefreiung. Mit großer Leichtigkeit und feinem Humor, der aber nie die dahinter stehende Tragik verdeckt, erfindet Prizkau mit diesem Buch den Sanatoriums-Roman neu. 

Moderation: Amelie May

In Kooperation mit der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main.

Anna Prizkau
©Valeria Mitelman

Anna Prizkau, 1986 in Moskau geboren, kam in den 90er-Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland. Sie studierte in Hamburg und Berlin und arbeitete viele Jahre als Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. 2020 erschien ihr Erzählungsband Fast ein neues Leben, der mit dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Hannover ausgezeichnet wurde. Anna Prizkau lebt in Berlin.

Amelie May studierte Politikwissenschaft, Skandinavistik, Komparatistik, Neuere Deutsche Literatur und Kunstgeschichte in Göttingen. Ab 2021 war sie am Literarischen Zentrum in Göttingen in verschiedenen Bereichen tätig. Mittlerweile lebt sie in Frankfurt und ist in der Presseabteilung der Verlagsgruppe Beltz angestellt.