Okt 2023
Clara Konrad arbeitet in einem Callcenter und ist darauf spezialisiert, Horoskope zu erstellen und Menschen die Zukunft vorherzusagen. In nicht ganz unerheblichem Maße macht sie sich die Tatsache zunutze, dass sie eine herausragende Geschichtenerzählerin oder – je nach Definition – eine begnadete Lügnerin ist. Was sie jedoch unterscheidet vom Rest der hochstapelnden Kunst: Alles, was sie herbeilügt, wird über kurz oder lang wahr – was ihre Therapeutin in einer abgeschiedenen Privatklinik natürlich wieder für Aufschneiderei hält, bis auch in der Klinik die seltsamsten Dinge geschehen.
In seinem Roman Die Lügnerin stellt Friedemann Karig die Frage, woraus wir gemacht sind – sind wir am Ende nicht mehr als die Summe unserer Geschichten? Zählen dann die erfundenen genauso viel wie die vermeintlich wahren? Und welchen Wert haben Ehrlichkeit und Wahrheit überhaupt noch vor diesem Hintergrund?
Moderation: Björn Jager
Eintritt: 5,-/8,-/12,- (pay as you wish)
Friedemann Karig, geboren 1982, studierte Medienwissenschaften, Politik, Soziologie und VWL und schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, das SZ-Magazin, Die Zeit und jetzt. Er moderierte das für den Grimme-Preis nominierte Format Jäger&Sammler von funk, dem jungen Online-Angebot von ARD und ZDF. Mit Samira El Ouassil betreibt er den Podcast Piratensender Powerplay. Dschungel war sein literarisches Debüt, zuvor erschien 2017 sein Buch Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie. Das von ihm 2021 zusammen mit Samira El Ouassil verfasste Buch Erzählende Affen wurde zum Bestseller und für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Karig lebt in Berlin und in München.
Bild: © Marie Staggat
Asiatisch gelesene Menschen bleiben in unserer Gesellschaft weniger sichtbar als andere migrantische Communities. Ihre Geschichten werden nicht erzählt, obwohl sie den größten Anteil der Gastarbeiter in der DDR gebildet haben. Über anti-asiatischen Rassismus wird kaum gesprochen, obwohl er, wie Beispiele von Lichtenhagen bis zur Corona-Pandemie zeigen, ein gesellschaftlich prävalentes Problem ist.
In Das Ende der Unsichtbarkeit spürt Hami Nguyen anhand ihrer Familiengeschichte diesen Phänomenen nach. Als Kind eines Vertragsarbeiters flüchtete sie mit ihrer Mutter 1991 aus Vietnam nach Deutschland. So präzise wie eindrücklich erzählt sie von Ausgrenzungserfahrungen aufgrund ihres Aussehens, von der ständigen Angst vor der Abschiebung, von bitterer Armut. Und nicht zuletzt stellt sie die Frage danach, woher diese Unsichtbarkeit stammt und was Rassismus und Klassenzugehörigkeit miteinander zu tun haben
Moderation: Nava Zarabian
Mit freundlicher Unterstützung durch den Ullstein Verlag.
Eintritt: 5,-/8,-/12,- (pay as you wish)
Hami Nguyen ist 1989 in Vietnam geboren und 1991 mit ihrer Mutter nach Deutschland geflohen, wo ihr Vater als Vertragsarbeiter in der DDR gearbeitet hatte. Sie studierte VWL, Soziologie und Politikwissenschaften in Halle/Saale und Luzern. Sie arbeitet als Referentin in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt/Main und setzt sich als Aktivistin unter @hamidala_ für eine gerechtere Gesellschaft ein.
Nava Zarabian ist Bildungsreferentin und leitet ein Projekt zum Thema Hate Speech bei der Bildungsstätte Anne Frank.
Bild: © privat
Bisher hat keiner der literarischen Trends der letzten zwanzig, dreißig Jahre etwas daran geändert, dass es im deutschsprachigen Raum vor allem eine erzählerische Grundhaltung gibt: den psychologischen Realismus. Dennoch gibt es zahlreiche Autor*innen, die sich auch jenseits von festen Genrezuordnungen den Gesetzen des Realismus entziehen.
Da wäre zum Beispiel Judith Keller, die in Wilde Manöver mit anarchischer Freude am Absurden von einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen zwei Frauen erzählt, von einem gestohlenem Lieferwagen, einem vermeintlichen Drogengeschäft, von Abenteuern, die immer unwahrscheinlicher werden.
Weniger absurd, aber umso phantastischer geht es in Gianna Molinaris neuem Roman Hinter der Hecke die Welt zu: Dort begegenen uns Kinder, die nicht mehr wachsen und eine Hecke, die dafür umso mehr wächst und so zum Magneten für Touristen wird. Die Kinder und die Hecke sind die letzten Hoffnungsträger für ein Dorf, das vom Verschwinden bedroht ist, während in der Arktis – und hier wird’s wieder ganz real – die Gletscher schmelzen.
Moderation: Christian Dinger
Mit freundlicher Unterstützung durch Pro Helvetia.
Eintritt: 5,-/8,-/12,- (pay as you wish)
Judith Keller, 1985 in Lachen in der Schweiz geboren, lebt in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert und war Redakteurin der Literaturzeitschrift EDIT. Für den Erzählungsband Die Fragwürdigen wurde Judith Keller mit Anerkennungspreisen von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnet.
Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich. Sie studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut und Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Für einen Auszug aus ihrem ersten Roman erhielt sie den 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017. Ihr Debütroman Hier ist noch alles möglich war ein großer Erfolg, wurde für das Theater adaptiert, erhielt den Robert-Walser- und den Clemens-Brentano-Preis und war für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert.
Bild Molinari: © Christoph Oeschger
Bild Keller: © Ayse Yavas
Nov 2023
Der Zweite Weltkrieg ist gerade erst vorüber, und die junge Maud besteigt im Chanel-Abendkleid einen Flieger, der sie ins kriegszerstörte Europa bringt. Von der Welt jenseits der New Yorker High Society hat sie noch nicht viel gesehen, da kommt die Gelegenheit gerade recht, vor ihrer Hochzeit eine britisch-amerikanische Militärmission nach Berlin zu begleiten. Diese hat den Auftrag, den Deutschen demokratische Prinzipien näherzubringen, aber die skurrilen Charaktere, die ihr angehören, können sich politisch auf nichts einigen und geraten ständig in Streit. Und die so glamouröse wie naive Maud muss bald feststellen, dass die Deutschen weder ein Interesse an Demokratie haben, noch daran, von ihr und den anderenAlliierten gerettet zu werden.
Gabriele Tergit ist eine Meisterin der Beobachtungsgabe und des vielstimmigen Gesellschaftsportraits, das beweist sie erneut in dieser von Nicole Henneberg erstmals nach dem originalen Typoskript herausgegebenen Neuentdeckung. Ein bitterböser Roman voller absurder Dialoge und Situationskomik, der Screwball-Komödien à la Billy Wilder in nichts nachsteht.
Moderation: Christian Dinger
Lesung: Viola Pobitschka
Eintritt: 5,-/8,-/12,- (pay as you wish)
Gabriele Tergit, (1894–1982), schrieb Romane, Feuilletons und Reportagen. Die jüdische Schriftstellerin emigrierte 1933 nach Palästina, 1938 zog sie nach London. Ihr literarisches Werk wurde erst spät in Deutschland wiederentdeckt. Heute gilt sie als bedeutende Autorin der Zwischen- und Nachkriegszeit.
Nicole Henneberg, geboren 1955, studierte Komparatistik und Philosophie in Berlin und Paris. Sie schreibt als freie Autorin und Literaturkritikerin u. a. für die FAZ und den Berliner Tagesspiegel.
Bild: © Max Liebenstein