74. Ferman – so nennen die Ezîden den systematischen Völkermord, der 2014 von fanatischen Anhängern des IS an ihnen verübt wurde. Die Erzählerin in Ronya Othmanns Roman Vierundsiebzig will über diesen Genozid schreiben, will eine Sprache finden für das Unaussprechliche. Sie reist zu Verwandten, besucht Überlebende in Flüchtlingscamps und fährt weiter in ein ezîdisches Dorf in der Türkei, in dem heute niemand mehr lebt. Sie sucht nach Berichten und Erzählungen, die Zeugnis ablegen, und nach einer Verbindung zum eigenen Leben in der Diaspora, als Journalistin und Autorin in Deutschland. Doch immer wieder muss sie erkennen: »Die Sprachlosigkeit liegt noch unter der Sprache, selbst wenn ein Text da ist.«
Ronya Othmanns klar und eindringlich formulierte Sätze lassen einen nicht kalt. Es sind Sätze, die sich permanent selbst hinterfragen und die auf diese Weise eine Suchbewegung abbilden – eine Suche nach Wahrheit, nach Identität und nach den richtigen Worten.
Moderation: Anna Yeliz Schentke
Ronya Othmann, als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-êzîdischen Vaters 1993 in München geboren, schreibt Lyrik, Prosa und Essays und arbeitet als Journalistin. Für Die Sommer, ihren ersten Roman, bekam sie 2020 den Mara-Cassens-Preis zugesprochen, für den Lyrikband die verbrechen (2021) den Orphil-Debütpreis, den Förderpreis des Horst-Bienek-Preises sowie den Horst Bingel-Preis 2022. Ein Auszug aus Vierundsiebzig, ihrem zweiten Roman, wurde 2019 mit dem Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs ausgezeichnet.
Anna Yeliz Schentke lebt als Literaturwissenschaftlerin und Autorin in Frankfurt am Main. Ihr Debütroman Kangal stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 und wurde mit dem Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises der Stadt Bad Homburg 2023 ausgezeichnet.