Jehona Kicaj

»ë«

19:30

»Ich möchte antworten: Ich komme aus der Sprachlosigkeit.«

 

Alles beginnt mit einer Diagnose. In so jungen Jahren, sagt der Zahnarzt zur Erzählerin, solche Verspannungen und derart geschädigte Zähne zu haben, sei ungewöhnlich. Wenn sie keinen Weg aus dem nächtlichen Knirschen finde, riskiere sie dauerhaften Schmerz beim Sprechen. Um die Ursache für ihre Anspannung zu finden, tastet die Erzählerin sich durch ihre Lebensgeschichte: Sie musste als Kind mit ihrer Familie aus dem Kosovo flüchten, kurz bevor dort der Krieg ausbrach. Und obwohl sie nie Zeugin der Kampfhandlungen wurde, haben sich andere Formen traumatischen Erlebens in sie eingeschrieben: der Verlust der Heimat, die Verzweiflung der Eltern angesichts des Kriegsgrauens, das Verschwinden des Großvaters, Ahnungslosigkeit und Ignoranz in Deutschland.

Mit ë hat Jehona Kicaj einen Debütroman vorgelegt, der das Paradox wagt, sich sprachlich der Sprachlosigkeit anzunähern. In kurzen, mosaikartig angelegten Episoden, umkreist Kicaj die Erinnerungen ihrer Protagonistin. Beklemmend und scharfsinnig erzählt sie von zerstörten und nie wieder aufgebauten Häusern im Dorf, aus dem die Familie stammt, von schambehafteten Missverständnissen in der Grundschule, vom Schweigen darüber, was einst im Krieg mit dem Großvater geschah, bis sich ein Bild darüber ergibt, wie ein Krieg auch jene zurichtet, die vermeintlich unversehrt geblieben sind.

Moderation: Björn Jager

Jehona Kicaj
© Carl Philipp Roth

Jehona Kicaj, geb. 1991 in Kosovo und aufgewachsen in Göttingen, studierte Philosophie, Germanistik und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft in Hannover. Nach wissenschaftlichen Publikationen erscheinen von ihr seit 2020 auch literarische Texte. Sie ist Mitherausgeberin der Anthologie »Und so blieb man eben für immer«. Gastarbeiter:innen und ihre Kinder (2023). Der Roman ë ist ihr Debüt.