Am Anfang steht der Sturz: Kaum in New York angekommen, rutscht die Mutter des Erzählers in der Airbnb-Wohnung aus und bricht sich die Nase. Der gemeinsame Urlaub in den USA könnte kaum schlechter beginnen, dabei stand die Reise schon vor dem Abflug unter einem schlechten Stern: Denn statt, wie geplant, nach der Woche im Big Apple alte Freunde zu besuchen, lässt die resolute Frau den Sohn wissen, dass sie mit ihm weiterreist, hoch bis nach Maine, an der Küste entlang. Aus den Plänen, die Einsamkeit zu genießen und am nächsten Buch zu arbeiten, wird also nichts.
Matthias Nawrat gelingt in seinem neuen Roman Reise nach Maine einmal mehr der Drahtseilakt, der schon sein bisheriges Werk auszeichnet: das Existenzielle im Alltäglichen zu fassen. Mit ungeheurem Gespür für den Witz und die Tragik des vermeintlich Banalen erzählt er vom gemeinsamen Urlaub eines erwachsenen Manns und seiner Mutter, in dem eine kaputte Nase das größte Abenteuer zu sein scheint. Auf dem Roadtrip aber erkennen die beiden, dass ihre Vergangenheit noch ganz andere Wunden geschlagen hat, nämlich jene, die sich in nahezu allen Familien finden: Sprachlosigkeit und das damit verbundene Geflecht aus unausgesprochenen Erwartungen, Wünschen und Enttäuschungen.
Moderation: Björn Jager
Matthias Nawrat ist ein deutscher Schriftsteller polnischer Herkunft. Sein 2012 veröffentlichter Debütroman Wir zwei allein erhielt den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Sein Roman Der traurige Gast (2019) wurde u.a. für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2020 erhielt er den Literaturpreis der Europäischen Union.